Sag ich doch immer: „Das Leben ist zu kurz für Sachbücher“ …. und vieles erschließt sich über Romane lustvoller, spannender und tiefgründiger. Eine ganz subjektive Auswahl meiner Lesevergnügungen.

Alida Bremers „Tesla oder Die Vollendung der Kreise“ ist kein, wie man erwarten könnte, Buch über von selbst rundum fahrende Elektroautos (wiewohl ein solches ganz am Ende vorkommt). Die fiktionalisierte Geschichte des kroatischen Arztes Ante Matijaca handelt nicht nur „über die Sehnsucht nach dem Neuen“ (Klappentext) sondern vielmehr von der Suche nach Bestimmung, Sinn und Aufgabe – und das als Geschichte von Exil, Rückkehr, der Historie Dalmatiens und dann Jugoslawiens im 20. Jahrhundert sowievom beinahe Untergehen in dessen Krisen und Kriegen.

Sehr gut gemacht würde ich sagen, an vielen Stellen berührend. Auch wenn der letzte Teil des Textes, in dem das schriftliche Vermächtnis Matijacas ausgebreitet wird und ein Geheimnis des Buches aufgelöst wird, als eine nicht notwendige, etwas bemühte Draufgabe erscheint. Ein offenerer Schluss hätte mir besser gefallen.

Und Nikola Tesla, der nach New York ausgewanderte, im ehemaligen Jugoslawien hochverehrte serbische Erfinder? Er dient in dieser Geschichte Ante als Ikone, als Reflexionspunkt des eigenen Lebens und dem Land Jugoslawien als Held, der im Rest der Welt unbekannt bleibt, ja, bis eines Tages ein Auto nach ihm benannt wird.

Tipp! https://www.literaturschiff.at/: Alida Bremer – Tesla oder Die Vollendung der Kreise; Lesung und Gespräch | Moderation Dominika Meindl; 20.01.2024, 19:30; Eferdinger Gastzimmer, Schmiedstraße 11, 4070 Eferding


Robert Seethalers neuestes Buch, „Das Café ohne Namen“, handelt rund um den Wiener Karmelitermarkt der 1960er Jahre – die Zeit, als Wien aus der Nachkriegsstadt langsam zur modernen Metropole heranwuchs. Wie so oft bei Seethaler geht es dabei – ohne Pathos – um die normalen Menschen. Die Geschichte eines „Tschecherls“, das „Café“ genannt, ohne jemals dafür einen Namen zu finden, ist die Geschichte von (nicht) erfüllten Sehnsüchten, Tag- und Alpträumen, Liebe, Tod und letztlich vom „Zusperren“. Liebevoll, bittersüß würde ich sagen, wenn das Buch in zwei Worten zu charakterisieren wäre.

Und es erinnert an Patrick Modianos Paris-Geschichten, wenn auch weniger luftig, derber, irgendwie – sozusagen – wienerischer.


Gefunden auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises 2022. Ein Text wie das Inhaltsverzeichnis eines überbordenden Feuilletons. Eine Familiengeschichte über Migration, Identität, auch queere, Rassismus, Kurden, Türken, Krieg, persönliche Befreiung, Gewalt und Feminismus. Too much könnte man meinen. In dem Fall aber gar nicht. Fatma Aydemir erzählt die Familiengeschichte der Yilmazs überaus gekonnt, so dass Themen mit viel Klischeepotenzial tiefgründig, aber leicht daher kommen.
Ähnlich sieht es die Buchpreisjury:
Hüseyin Yilmaz war Gastarbeiter der ersten Generation in Westdeutschland. Nach 30 Jahren pausenloser Schufterei stirbt er in dem Moment, als er mit Rentenbeginn seinen Traum einer eigenen Wohnung in Istanbul verwirklicht hatte. Sein Tod vereint die teilweise zerstrittene Familie in dieser Wohnung – mit ihren Ängsten, Hoffnungen, ihrer Verzweiflung. Aydemir lüftet ihre Geheimnisse präzise und einfühlsam. Die Perspektiven der einzelnen Familienmitglieder zeigen, dass sie trotz der Unterschiede, die die Generationen trennt, in mindestens einer Sache nah beieinander sind: dem Gefühl der Heimatlosigkeit. „Dschinns“ vereint Fragen nach Identität, Geschlecht und Herkunft ebenso wie die Themen Rassismus und Diskriminierung, während gleichzeitig ein Teil jüngerer deutscher Geschichte behandelt wird, der bisher kaum in der Literatur zu finden ist.

In den letzten Sommertagen hineingefallen, hineingezogen in „RCE #RemoteCodeExecution“ der „wunderbaren“ (Zitat Stermann und Grissemann) Sibylle Berg.

Ist es ein Roman, wie es am Cover steht, oder eine Textfläche? Beides, aber schon stärker letzteres – quasi Elfriede Jelinek in leichter Sprache.

Ist es Belletristik oder ein Sachbuch? Der Plot ist simpel, aber über weite Strecken spannend gemacht (auch wenn Wiederholungen das Lesevergnügen manchmal trüben; die „speedige“ Sprache entschädigte mich dafür) – eine Gruppe junger Hacker rettet die in Neoliberalismus, Globalisierung und Überwachung untergehende Welt (oder versucht es zumindest, mir fehlen noch die letzten Seiten).

Aber ein soziologisches Werk, eine treffende Weltbeschreibung ist es jedenfalls. Beispiel gefällig?

Die Fitten, die ihr Humankapital in Form halten, fanden ihr Leben fantastisch. Sie filmten sich beim Fantastischfinden. Sie hatten nichts zu verbergen. Ihre Vorbilder waren Konzernchefs, Macher, mutige Männer. Von den sie radikalisiert wurden. … Die westlichen Kleinbürgerkörper verformt und kurz vor dem Zusammenbruch, der Anspruch, zu einem genormten, energiegeladenen, einheitlich funktionierenden beschäftigen Konsumkörper zu werden, am Rande des Wahnsinns.“ oder „Die Massen, die früher akzeptiert hatten, dass sie für das Land, das einmal allen gehört hatte, Pacht zahlen mussten, entscheiden heute demokratisch, dass Milliardäre keine Steuern zahlen mussten. Und hatten sich daran gewöhnt, dass es Menschen gab, denen wegen ihrer Leistung mehr zustand.“


Mich verbindet ja viel mit Albanien. Im letzten Jahrhundert war ich für die Allianz für Kinder oftmals in Tirana.
Das hat mich auch zu meiner aktuellen Lektüre gebracht: Lea Ypis Coming-of-Age im Albanien der 1990er Jahre, eingebettet in sehr gescheite Reflexionen über gesellschaftliche Verhältnisse, Liberalismus, gescheiterte Ideale und das Abmühen mit Geschichte.
„Freiheit – Erwachsenwerden am Ende der Geschichte“ hätte ein wissenschaftliches Werk werden sollen, wurde aber zu einer wunderschönen romanhaften Erzählung mit dem sehr heutigen Satz der Großmutter der Erzählerin: „Wenn man die Zukunft nicht klar erkennen kann, muss man sich auf das besinnen, was es aus der Vergangenheit zu lernen gibt.“

Das neue Buch meines Bruders Andreas Jungwirth, als Hörspiel mit dem Titel „Peace“ habe ich es schon gehört.

Jedenfalls eine Empfehlung und ab 28.02.2022 im Buchhandel.
Andreas Jungwirth IM ATLAS  – Edition Atelier – 296 Seiten
Eine Reise durch Marokko (die – eh klar – anders verläuft als geplant), der Mord an zwei Touristinnen (wovon es ein Video gibt), David und Stefan, beide Mitte 40 (die nach einem Jahr Beziehung an einem für ihre Zukunft entscheidenden Punkt stehen), ihr Fahrer Kalifa (der die beiden mit nach Hause nimmt), eine Nacht in der Wüste (in der ein Mensch verschwindet), ein Theaterstück (für das ein Bühnenbild gesucht wird), ein New Yorker Hotelzimmer (im 45. Stock in der 45. Straße), ein Basecap (das der Wind in den Straßenstaub bläst), eine Bar (die an True Blood erinnert) und die Frage: Was ist hier eigentlich echt und was ist bloß Kulisse?

Wenderomane, Geschichten aus der Zeitenwende nach 1989, konnten wir einige lesen. „Der Turm“ von Uwe Tellkamp, der sich zuletzt rechtspopulistisch verirrte, war für mich 2008 der erste. Zuletzt, 2020, zwei Bücher, die unmittelbar nach dem DDR-Zusammenbruch in den Berliner Hausbesetzerszenen angesiedelt sind: Bude, Munk und Wieland mit „Aufprall“ sowie „Stern 111“ von Lutz Seiler. Letzterer legte schon davor mit „Kruso“ eine Story vor, die auf der Insel Hiddensee im Milieu der Saisonarbeiter und gesellschaftlichen Aussteiger zum Ende des Arbeiter- und Bauernstaates spielt.

Und nun wurde Sasha Marianna Salzmann mit „Im Menschen muss alles herrlich sein“ auf der Longlist es Deutschen Buchpreises nominiert – zu Recht würde ich meinen. Zu Beginn des Romans treffen sich zwei Mütter und Töchter, Auswanderinnen aus der Ukraine, nach einem Geburtstagsfest in dramatischer Begegnung. Und dann läuft die Geschichte mit vielen Rückblenden in die Zeit der Perestroika und das Zuwandererlebens im Osten Deutschlands genau wieder auf diese Begegnung zu. Damit sind auch die beiden Stränge des Buches benannt: einerseits, was mit Menschen geschieht, wenn es politische Systeme zerreißt; anderseits das Ringen um Beziehung, Nähe, Intimität und Verständnis zwischen Müttern, Töchtern und deren Vätern. Salzmann erzählt mit starken und auch manchmal mehr als komischen Bildern – wenn etwa der Mann vom Schlüsseldienst Gorbatschow ist und unter seiner Arbeitshose ein rotes Spitzhöschen hervorlugt. Berlin eben, wie eine der Protagonistinnen lapidar meint.


Während die Science-Fictions der 1960er Jahre ihren Maschinen der Künstlichen Intelligenz noch abstrakte Namen gaben, sind die KIs der aktuellen Bücher menschlicher. In Arthur C. Clarkes Roman 2001 „A Space Odyssey“, die Vorlage zum Film von Stanley Kubrick, heißt der Computer HAL und der menschliche Raumfahrer DAVE.
Etwas mehr als 30 Jahre später nennt Raphaela Edelbauer die Künstliche Intelligenz DAVE (so heißt auch der Roman) und ihren Helden SYZ.
ADAM heißt der Android in Ian McEwans Roman „Maschinen wie ich“. Und in der aktuellen Science-Fiction des Nobelpreisträgers Kazu Ishiguto nennt sich die Künstliche Intelligenz KLARA, der Roman heißt „Klara und die Sonne“. How ever: Letztlich dient der KI-Plot auch wieder dazu, die Fragen menschlicher Beziehungen zu reflektieren.

Im Frühjahr 2021  dachte ich noch: 1. Wann gibt es den ersten Lockdown Roman und 2. wie schreibt man den? Also: 1. jetzt in der Buchhandlung und 2. Juli Zeh schreibt ihn als Geschichte zwischen Berlin und Brandburg, zwischen Virusbesessenheit und AfD. Fein würde ich sagen, aber das finde ich ja fast alles von Frau Zeh.

Das Thema Künstliche Intelligenz #KI im Roman „DAVE“ von Raphaela Edelbauer. Die junge österreichische Starautorin über „Was braucht es, um eine Maschine mit menschlichem Bewusstsein auszustatten?“ und der Programmierer Syz, den nichts so sehr interessiert, wie die Beantwortung dieser Frage. Doch als er hinter die Kulissen des Labors blickt, gerät sein bedingungsloser Glaube an die Technik ins Wanken. Welchem Zweck dient DAVE und wer wird von ihm profitieren?
Sprachlich exzellent, spannend, gespickt mit kuriosen Einfällen und philosophischen Überlegungen – eine mehr als gelungene Melange.

Josef von Neupauer schreibt 1893 ein sozialpolitisches Science-Fiction-Werk, das in Dresden bei E. Pierson erscheint. Tobias Roth entdeckte den Roman wieder – 2020 neu aufgelegt unter „Österreich im Jahre 2020“. Am 13. Juli 2020 begeben sich zwei Amerikaner auf eine Reise durch ein exotisches und rätselhaftes Land in der Staatenunion Europas: Österreich.
Das Land hat keine Armee und in Wien stehen nur noch drei Kirchen. Es herrscht Wohlstand. Die Gütergemeinschaft ist friedlich und sanft. Kaiser und Adel sind glitzernde Statisten einer klassenlosen Gesellschaft.
Eine bizarre Geschichte, die lesenswert ist, wenn man überraschende Plots, Perspektivenwechsel und verwirrende Blickwinkel mag.


Wenn alle über Heimat, Terror und Krise reden, dann einen wirklich guten Heimatroman, ein Buch über Heimaten, Erinnerungen und Erfindungen, Sprache und Scham, Ankommen und Zurechtkommen, Glück und Tod. Saša Stanišić, geboren in Višegrad im ehemaligen Jugoslawien, lebt in Deutschland und legt mit „Herkunft“ sein bisher schönstes Buch vor. Dafür gab es auch den Deutschen Buchpreis 2019.


„Absinth Fiction“ von Martin Madlmayr. Erstlingswerk – (ober)österreichisch, direkt und ein guter Krimi für einen Sonntag am Sofa. Dieses Buch wurde von mir am Neujahrstag2020  „auf einen Sitz“ ausgelesen. Ein interessanter Krimi mit einer eigenen, gelungenen Art der Erzählform. Die Sprache ist hart und gewöhnungsbedürftig, aber passt zur Hauptfigur. Die Handlung beginnt verkatert und baut nach und nach einen Thriller-ähnlichen Spannungsbogen auf. Dass der Leser am Ende des Handlungsbogens mit einer derart überraschenden Auflösung konfrontiert wird, trägt dazu bei, dass ich auch Folge 2 lesen würde. Chapeau an den Autor, dem hier ein wirklich gutes Erstlingswerk (wie die meisten Erstlingswerke leidet es an manchen Stellen an Überladung – aber das tut der entspannt Lesefreue keinen Abbruch) gelungen ist.

 

 

 

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