Die Steyrer Stadtschreiberin 2021, Regina Hilber, hat mich zu einem Briefverkehr über Steyr eingeladen. Teil 2 – Teil 1 ist hier zum Nachlesen


Lieber Christoph,

was meintest du genau mit dem „anderen zu viel“ das deiner Meinung nach sehr wohl „zu viel“ ist?

Ich kann aus meiner Sicht (nach vier Monaten Schreibzeit) bestätigen, dass in Steyr die Romantisierungsmechanismen geradezu auf Hochtouren laufen: Von den ehemaligen Wasserkraftwerken entlang des Wehrgrabens bis zum neu adaptierten Innerberger Stadl bildet Steyr einen schnieken Schaukasten. Der Standort der FH neben dem Museum Arbeitswelt als innovatives Pendant hätte nicht besser gewählt werden können. Die Romantisierungsschiene läuft diametral zur Vergangenheitsbewältigung und führt in ein weiteres Vakuum, das gut verschnürt, zwar angestarrt, aber unversorgt bleibt. Das kollektive Trauma liegt latent über der Stadt, hat tiefe Gräben, auch innerfamiliär, gerissen.

Natürlich wäre es einfach als Außenstehende/Außenstehender mit ausgestrecktem Finger auf die Plansiedlung Münichholz zu zeigen, auf das ehemalige KZ, auf die Außenlager und Baracken, die noch gegenwärtig sind, oder auf die einstige Herstellung von Kriegsmaterial zu verweisen. Fragen werden gestellt und gleich wieder abgeschüttelt. Unangenehme Fragen. Von jenen, die in Steyr temporär hängen bleiben.

Ab dem Zeitpunkt des Hineinfragens und Bohrens wird es schwierig für alle Lager: Wie genau kann so eine Auseinandersetzung mit Stadtgeschichte, mit politischem Erbe, geführt werden? Wem wird sie gerecht und aus welchen Motiven? Wie der heutigen Stadtstruktur begegnen, den BewohnerInnen begegnen, die nicht verantwortlich gemacht werden können für die Verbrechen der NS-Zeit? Selbst auf meinem Blog STEYR goes around habe ich diese Thematik stets umschifft in meinen Beiträgen, denn ein Diskurs wie jener kann nicht als statischer und eindimensionaler Blog geführt werden. Daher an dich: Wie gelingt dieses WIE?

 

Regina Hilber


Liebe Regina,

so viele Themen und Fragen, aber ich probiere es.

Mit dem „anderen zu viel“ meinte ich das Viele, das den Steyr Stadtplatz zumüllt – aber darüber hast Du zuletzt in deinem Beitrag in den Oberösterreichischen Nachrichten schon räsoniert.

Was ich bei Dir nachfragen will, ist das von Dir angesprochene „kollektive Trauma“, das latent über der Stadt liege. Was meinst Du denn da genau? Wo erlebst Du das in Steyr konkret (soweit Latenz konkret sein kann)? Oder – das behaupte ich – ist das nicht eigentlich „nur“ ein quasi Thomas Bernhard’sches Konstrukt, um Verschwiegenes anzusprechen? Aber, nimmst Du das wirklich als Stimmung in Steyr wahr?

Auf die Gefahr, dass mein „goldenes Steyrer Herz“ mit mir durchgeht. In Steyr zu leben ist für mich vor allem fein – ich habe mich vor 30 Jahren entschieden, hierher zu ziehen. Es geht mir darum, dass man sich gar nicht mit Stadtgeschichte beschäftigen muss, wenn man an einem Ort lebt. Wichtiger scheint mir: Wie kann jetzt das gute Leben an einem Ort, in einer Stadt gelingen? Und gleichzeitig ist es gut (ein moralischer Anspruch, ich gebe es zu), sich dabei nicht ahistorisch zu geben. Wenn man dann die Fragen nach Vergangenheit stellt, gilt es nicht, nur über Rokoko Rathäuser, goldene Löwen und 1000 Jahre alte Burgen zu reden, sondern auch über Steyrer Waffenproduktion, die Zeit der Nazis oder die Brutalität Adliger gegenüber ihren Leibeigenen im Ennstal. Letzteres ist ein Aspekt, der in der an sich sehr differenzierten aktuellen Landesausstellung bis auf einen Satz völlig ausgespart wurde.

Ja und wie kann das gelingen fragst Du? Das frage ich mich auch. Ich schlage vor: über’s Anbieten von Geschichten – nicht nur die üblichen über Steyr von den Ottokaren und dem Geschlecht der Lambergs und von Werndl mit seinen fleißigen Arbeitern, sondern auch vom Scheiterhaufen für die Waldenser oder über die ZwangsarbeiterInnen in den Stollen unter dem Schloss und hinter dem „alten“ Gymnasium.

Anhorchen muss sich das niemand, aber es kann sich jede/r dafür interessieren. Mir würde das genügen. Nur an die Funktionsträger der Stadt habe ich den Anspruch, dass sie in offiziellen Funktionen auch daran immer wieder erinnern. Da sehe ich das einzige Muss in dem Kontext.

Christoph Jungwirth

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