Seit ich mich als Kind erinnern kann, hing in der Küche meiner Oma über der Eckbank das Porträt meines  Jahre zuvor verstorbenen, zeitungslesenden Großvaters. Die Geschichten über ihn waren spärlich. Er habe „am Herzen“ gelitten und „musste deswegen nicht in den Krieg“, arbeitete stattdessen in Linz in einem Lager, in das die Familie nach 1945 – aus Untermühl an der Donau kommend – nachzog. Vorher versuchte er, in Linz ein Gasthaus zu eröffnen, was misslang. Ansonsten sei er viele Jahre arbeitslos gewesen. Oft besuchten wir in Kirchberg ob der Donau das Gasthaus von Tante Maridl. Erst später verstand ich: Es war sein Elternhaus.

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Um das Jahr 2000 erforschte Professor Rathkolb die Geschichte der Voest. Als ich hörte, dass dabei alle Personalakten seit der Gründung der Hermann Göring Werke gefunden wurden, bat ich um die von Leopold Jungwirth. Seither sammle ich, was ich von meinem Großvater in die Hände bekomme. Die Abende der letzten Pandemie-Lockdowns nutzte ich, um das zu systematisieren. Daraus entstand dieser ständig wachsende Text, der sich in der Version vom 26. Dezember 2021 auch hier findet.

Leopold wurde am 14. Oktober 1893 in Kirchberg ob der Donau Nr. 10 als Sohn von Anton (*1848) und Zäzilia (*1864, geb. Wolfsteiner) Jungwirth geboren und am selben Tag getauft. Seine Eltern besaßen – wie er 1941 notierte – ein „Gasthaus mit Ökonomie“. 1946 gibt er in einem Fragebogen „Fleischauer, Gastwirt & Landwirt“ als väterlichen Beruf an.

Namentlich sind sechs Geschwister bekannt: Ottilie, Cäcilie, Hedwig, Julia, Johann und Hermann (1890-1966), der den elterlichen Betrieb weiterführte. Da „Onkel Hermann“, wie er in den Familienerzählungen heißt, kinderlos blieb, übergab er Hof und Gasthaus an seine Verwandte Maria Wolfsteiner (1934-1999), eben jene Tante Maridl, die wir oft besuchten.

Mit ihrem Mann Alois Koblmüller (1933-2013) führte sie das Haus, in dem heute deren Sohn Ernst Wirt ist: DA‘ Wirt Kirchberg – Gasthaus Koblmüller.  Auf obigem Bild in der Mitte sind die drei  Koblmüller-Buben Hermann, Ernst und Alois mit meinem  Bruder Andreas und mir (links) im Jahr 1972 zu sehen.

Leopolds Großvater väterlicherseits, Anton Jungwirth, kam 1819 in Rohrbach zur Welt, heiratet 1840 in Altenfelden Rosina Prieschl (*1821) und war spätestens ab 1848 Gastwirt und vermutlich auch Bäcker in Kirchberg.Die Urgroßeltern Anton (*1793) und Anna-Maria (geb. Sonnleitner oder „Sonleutner“) Jungwirth waren „Bürger in Rohrbach Nr. 40“ (heute Stadtplatz 36). Ab 1825 besaß Anton das Haus Nr. 26 (heute: Stadtplatz 33), wo er als Witwer mit seiner zweiten Frau Josefa (geb. Bär aus Peilstein) lebte. Anton Jungwirth arbeitete in seiner Jugend als „Müllermeister auf der Kastenmühl in Unterriedl“ in St. Stefan (13 km entfernt).

Sein erstgeborener Bruder Johann (*1786), der mit seiner Frau Barbara (geb. Lanz) das Elternhaus („Jungwirthhaus“) übergeben bekam, wurde durch weitverzweigten Handel sehr vermögend. Als Frächter lieferte er Waren nach Triest, betrieb den Stellwagenbetrieb (Fuhrwerke für die Personenbeförderung im Liniendienst) nach Linz, übernahm 1820 den staatlichen Salztransport und zehn Jahre später auch die Beförderung der amtlichen Briefe, Gelder und Wertsachen. Zudem war er zwei mal Bürgermeister und pachtete mit seinem Sohn Ignaz das Marktbräuhaus. Dieser Zweig der Familie erwarb 1870 auch den Herrschaftssitz Berg bei Rohrbach und besaß diesen bis 1912.

Leopolds Ururgroßvater Gregor Jungwirth (*1734) erlangte als Frater Anton regionale Berühmtheit und ist Mittelpunkt der Sage: „Der Einsiedler von Schwarzenberg“.

Das Grundstück dieser Einsiedelei war 1764 vom Abt des Stiftes Schlägl dem Stiftsbäcker Anton Jungwirth auf Lebenszeit überlassen worden. Es wird berichtet, dass dieser dem Abt manchen Verdruss bereitete, denn er wollte seine Kapelle zu einer Pfarrkirche und seine Einsiedelei zum Pfarrhof machen, wofür er meinte, die Kosten aufbringen zu können, wenn das Kloster die Priester stellen würde. Er plante, mehrere „Waldbrüder“ um sich zu versammeln. Als sich schließlich zwei reiche Bauerssöhne aus Jandelsbrunn (Bayern, 14 km Wegstrecke entfernt) als Novizen in der Eremitage meldeten, sollte ihr Vermögen zum Kirchenbau dienen.

Unter Frater Antons Führung wandte sich die Gemeinde Schwarzenberg an die kirchliche Obrigkeit und im Pfarrregulierungsreskript vom 6. März 1784 wurde das Verlangen der Schwarzenberger nach einer eigenen Pfarrei erfüllt. Damit sollte vor allem in den Wintermonaten der weite Weg nach Ulrichsberg oder Breitenberg abgekürzt werden. Mit dem Bau der Pfarrkirche und des Pfarrhofs, ebenso einer Pfarrschule, wurde noch 1784 begonnen. Frater Anton wurde so auch zum Schullehrer, Messner sowie Bauherrn und heiratete im Jänner 1785 die (vermutliche) Jägerstochter Maria Elonore Schauberger (*1764), welche im neuen Pfarrhof kochte.

Die beiden erwarben 1791 in Rohrbach das Haus Nr. 16 (heute: Marktplatz 29), das als „Jungwirthhaus“ bis Mitte des 20. Jahrhunderts in Familienbesitz war. Der ehemalige Frater fungierte um 1800 als Richter in Rohrbach.

Der Vater des umtriebigen Fraters, Lorenz Jungwirth (1692-1773), stammte aus Hintring (heute: Záhvozdí als Teil der Gemeinde Želnava) im südböhmischen Bezirk Prachatitz (heute: Prachatice) – seine Geburt ist am 2. August 1692 dokumentiert.

Lorenz war (ab) 1713 „als Wagnergeselle in der Fremde“ tätig.1722 heiratete er im 15 km von zu Hause entfernten Ulrichsberg Sophia (*1699, geb. Scheibelberger). Sie war in der Micheleckmühle am Großen Michelbach (Oberlauf der Großen Mühl auf deutscher Seite, Gemeinde Neureichenau) gebürtig (5 km von Schwarzenberg, 15 km von Ulrichsberg). Die beiden ließen sich in der Schwarzenbergermühle nieder, heute eine museale Leinölpresse.

Die vierfachen Urgroßeltern Leopolds waren Anton Jungwirth (1667-1750) aus dem böhmischen Berneck (heute: Pernek in der Gemeinde Želnava; etwa 20 km nach Schwarzenberg) und Sabina Kindermacher (1664-1729). In den Matriken der Pfarre Salnau/Zelnava findet sich am 23. Jänner 1667 die Geburt und Taufe von Anton eingetragen.

Das Trauungsbuch dieser Pfarre weiß auch von der Hochzeit mit Sabina (23. Oktober 1691) Bescheid, deren Eltern waren Laurentius und Barbara Kindermacher.

Anton war von 1686 bis zur Hochzeit 1691 als Knecht bei seinem Paten Michael Stutz in Berneck tätig, arbeitete dann bis 1719 im Nachbardorf Hintring (Heimatort seiner Frau) als Wagner und war Inmann (jemand, der zur Miete wohnte; auch: Häusler). Ab 1720 war er Wagner in Wallern (heute: Volary in Südböhmen, 10 km nördlich von Hintring), wo Sabina 1729 verstarb. Sie hatten gemeinsam sechs Kinder. Anton übersiedelte (vermutlich) zu seinem Sohn nach Schwarzenberg und starb dort 1750.

Noch zwei weitere Generationen Jungwirth sind nachweisbar: Beide lebten in Parkfried (heute: Bělá, Ortsteil der Gemeinde Nová Pec in Tschechien, 18 km von Schwarzenberg).

Michael (16351693) und Elisabeth Jungwirth (*1640, geb. Salzer) hatten zehn Kinder. Michael war bei der Hochzeit 1665 Knecht beim Bauer Christoph Reuschl im Nachbarort Berneck, danach ab 1667 bis zu seinem Tod Inmann, also „Häusler“, zuerst in Berneck dann wieder in Parkfried.

Mit diesen Berufen ist naheliegend, dass der Name Jungwirth nicht vom Besitz eines Wirtshauses, sondern von der zweiten möglichen Bedeutung – „junger Ehemann“ – herrührt. Auch scheint es so, dass erst mit dem Hauskauf von Gregor Jungwirth (Frater Anton) 1791 dieser Zweig der Familie erstmals zu Immobilienbesitz kam, während sie davor eingemietete Häusler waren.

Und schließlich Matthias (ca. 1600-1686) und Elisabeth Jungwirth (*1605), die sechsfachen Urgroßeltern von Leopold Jungwirth. Sie wurden erwachsen, als 1618 in Südböhmen der Deißigjährige Krieg begann. Über Jahre kam es in der Region zu Plünderungen, Überfällen und Zerstörungen. Schätzungen sagen, dass Böhmen so ein Drittel der Bevölkerung verlor.

In dieser Zeit und auch Gegend spielt Adalbert Stifters Erzählung „Hochwald, die mein Bruder Andreas in einem Hörspiel dramatisierte.

Ungewiss bleibt, ob die Jungwirth-Generationen davor auch in Parkfried lebten oder zuzogen.

Andere Vorfahren Leopolds – jedoch nicht in direkter „Jungwirth-Linie“ – waren Jäger (Johann M. Reber um 1680 in Kreuzberg, Niederbayern; Stephan Schauberger um 1690 in Gsenget, Breitenberg; Johann A. Schauberger um 1720 in der Herrschaft Rannariedl), Herrschaftsfischer sowie Revierförster (Johann G. Schauberger um 1750 in Holzschlag, Pfarre Ulrichsberg), Bauern (Matthias Pernsteiner um 1790 in Dobretshofen bei Rohrbach; Johann Wolfsteiner um 1830 unter der Herrschaft Pürnstein in der Nähe von Altenfelden), aber auch Wirt und Bäcker (Franz Prischl um 1800  Bäcker in Altenfelden).

Der komplette Stammbaum und ein Überblick über die Vorfahren von Leopold kann hier nachgeblättert werden.

Wieder zurück zu Leopold Jungwirth an den Beginn des 20. Jahrhunderts:

Der Bub wurde im Mai 1900 in die Volksschule Kirchberg aufgenommen. Das Zeugnis der ersten Klasse weist lauter „Sehr gut“ auf, bis auf Gesang. In der zweiten Klasse heißt es, er „schwätzt öfters“, ein Jahr später „stört (er) im Unterricht“ und erhält trotzdem oder deswegen nur „sehr gut“. Das Entlassungszeugnis im Oktober 1907 zum „Ende der Schulpflichtigkeit“ (nach acht Klassen) weist wiederum beinahe nur Einsen aus, jedoch eine Vier in Gesang – was mich fatal an meine eigene Volkschulzeit erinnert.

Von da an war Leopold bis Juni 1915 im Elternhaus, in der Landwirtschaft und im Gastgewerbe mitarbeitend.

Bereits ein Monat vor Beginn des Ersten Weltkriegs musste er am 15. Juni 1914 einrücken und konnte erst vier Wochen nach Kriegsende am 4. Dezember 1918 abrüsten. Sein letzter Dienstgrad war Telefonist und er erhielt zwei Auszeichnungen: die silberne Tapferkeitsmedaille II. Klasse und das Bronzene Karl Truppenkreuz, wofür er mindestens zwei Wochen im ununterbrochenen Fronteinsatz stand. Der Krieg muss für ihn eine unvorstellbare Qual und Belastung gewesen sein. Man führe sich nur die dürren Fakten vor Augen (lt. seinem Lebenslauf aus 1941): 1916 Offensive Süd-Tirol, anschl. „Besetzung in Montenegro“, Überstellung zu Dragoner Regiment und Einsatz in Wolhynien (Nordwest-Ukraine) sowie in der Bukowina (Rumänien-Ukraine). Nach dem Waffenstillstand Dezember 1917 Transfer nach Itlaien und 1918 Soldat in der Piave Offensive. Im Herbst 1918 musste Leopold noch im albanischen Rückzug kämpfen und kam bis Cattaro (heute Kotor in Montenegro), „wo ich wegen Malaria und Ruhr bleiben musste.  Am 4.12.1918 als schwer Kranker nach Hause, konnte ich erst wieder im Sommer 1925 langsam die Arbeit beginnen.“

So war er von Ende 1918 bis Februar 1921 im Elternhaus. Er versuchte dann bis Dezember 1921 in Arnreit bei der Firma Leitner als Getreideeinkäufer zu arbeiten. Vom Dezember 1921 bis April 1926 war Leopold wiederum zu Hause.

In diese Zeit fällt auch die Geburt des unehelichen Sohnes Othmar Jungwirth (*1921) mit Frau Unter.

In Vorbereitung seiner Ausreise in die Schweiz wurde ihm am 15. April 1926 ein Heimatschein ausgestellt, in dem als Beruf „Besitzers Sohn“ und „Stand: ledig“ angeführt sind. Am Tag darauf erhielt er von der Bezirkshauptmannschaft Rohrbach einen Reisepass„Beruf: landwirtschaftlicher Praktikant“.

Dieser Pass enthält befristete (5. Mai 1926 bis 1. Juni 1927) Visa für die Schweiz zur Tätigkeit als „landw. Praktikant“, wohin er auch am 12. Mai 1926 per Zug reiste und bei einem Nikolaus Kaufmann(?) arbeitete. Von 27. September 1926 bis Ende Februar 1927 verdingte er sich bei der Luzernischen Obstverwertungsgenossenschaft, Hitzkirch, Filiale Sursee. Er half beim Mosten, erlernte das Brennen der Trester und stieg zum „ersten Brenner einer Dreihafenbrennerei“ auf. Später wird er in Personalfragebögen die abgelegte „Prüfung zum Brantweinbrenner und Dampfbrenner in Sursee, Luzern, Schweiz“ als einzigen formalen Berufsabschluss angeben können.

Vom 28. April 1927 bis zum 3. Mai 1928 war der 35-jährige Leopold bei Josef Beck, Bürserberg, Stellwagenkutscher und Inkassant. Als Hausbursche arbeitete er vom Mai 1928 bis September 1928 im Hotel und Pension Beck, Brand bei Bludenz und bis Juni 1931 als Portier und Hausbursche im Gasthof Eisernes Kreuz Bludenz (Besitzerin Anna Schweitzer).

Hier war er länger zeitgleich mit der Köchin und späteren Ehefrau Ida Wurnig, die er wohl an dieser Arbeitsstelle kennenlernte. Auf einer Ansichtskarte in den Unterlagen von Ida Jungwirth findet sich der Hinweis auf die Verlobung am 9. Mai 1931 im Tiroler Absam. Anscheinend waren sie gemeinsam auf dem Weg zu Idas Heimatort Ainet bei Lienz, um Dokumente wie den Heimatschein ausstellen zu lassen.

Bis Juni 1932 arbeitete Leopold in weiteren Tourismusbetrieben, unter anderem im Hotel Post in Bludenz.

Am 9.  Mai 1932 wurden Leopold und Ida Jungwirth (*8.10.1903, geb. Wurnig aus St. Johann im Walde bei Lienz; Vater: Josef Wurnig; Mutter: Franziska Müllner) in der Pfarre Absam (Tirol) ein Ehepaar. Es wird eine Hochzeit im sehr kleinen Kreis gewesen sein, weil als Trauzeugen Herr Gessler, ein Beamter aus Innsbruck, und Herr Haider, Messner in Absam, fungieren mussten.

Amtl. Linzer Adressbuch 1932

Zurück in Oberösterreich pachtete das junge Paar unter Einsatz seiner Ersparnisse von Mai 1932 bis März 1933 in Linz das Gasthaus „Zum Schwarzen Rössl“ (Besitzer: Prambauer Johann) in der Blumauerstraße 6, wo sie auch wohnten. Dieses Lokal übersiedelte in späteren Jahren in die Raimundstraße 18, Ecke Grillparzerstraße. Über diese Zeit schreibt Leopold: „… und pachtete ein Gasthaus, das ich infolge der dort einsetzenden schlechten Zeiten nach 9 Monaten aufgeben musste“.  Von März 1933 bis März 1938, von seinem 40. bis zu seinem 45. Lebensjahr, war Leopold wieder arbeitslos – insgesamt war er dies mehr als elf Jahre lang zwischen 1918 und 1938.

In diese Zeit fällt auch die Geburt der beiden Kinder: am 29. Dezember 1933 Sohn Hermann, mein Vater, und am 1. Februar 1936 Tochter Karoline, meine Tante Lini.

Im amtlichen Linzer Adressbuch 1934 sind Ida und Leopold Jungwirth in der Goethestraße 54 (heute: ein Nachkriegsbau zwischen Dinghoferstraße und Starhembergstraße, Nähe Südbahnhofmarkt) gemeldet, danach hatten sie keinen Linzer Wohnsitz und siedelten nach Kirchberg ob der Donau, wo sie jedenfalls 1938 wohnten und blieben bis 1946 im Ortsteil Untermühl an der Donau, Point Nr. 2, wiewohl Leopold während des Zweiten Weltkriegs Wohnadressen auch in Wohnlagern der Linzer Hermann Göring Werke hatte (siehe unten).

1937 für vier Monate, Anfang 1938 für einige Wochen und danach von März bis Jänner 1939 („Einstellung der Arbeiten wegen Frost“) fand Leopold eine Hilfsarbeiterstelle beim Landesbauamt, unter anderem bei Straßenbauarbeiten in Eferding.

Das mit 16. September 1938 ausgestellte  Wehrbuch sagt über Leopold: „gelernter Beruf: Lohndiener, ausgeübter Beruf: Hilfsarbeiter“, Befund: tauglich.

Am 29. Jänner 1939 wurde er vom Arbeitsamt Linz „in die Göringwerke überstellt, wo er „9 Monate bei Hoch-Tief I als qualifizierter Arbeiter auf der Kippe eine kleine Partie führte“ (so laut eigenem handschriftlichem Lebenslauf von 1941). Dabei war er vermutlich im „Lager Hochtief Negrelli“ untergebracht.

Ab 18. Oktober 1939 war er Badeheizer bzw. Badewärter im Lager 56, wurde dort zumindest ab etwa Juni 1941 bereits auch für Kanzleiarbeiten eingesetzt. Sein Wochenlohn betrug brutto 46 Reichsmark (entspricht 2021: 273,- €).

Von 15. August 1941 bis 1946 (also offenbar ohne Unterbrechung über das Ende der NS-Zeit hinaus) war er Hilfslagerführer für Lager 20, Lager 45 (Monteurlager) und Lager 56, mit Wirkung ab 14. Jänner 1942 zusätzlich Lagerrechnungsführer in den Diensten der Reichswerke A.G. „Hermann Göring“ Alpine Montanbetriebe. 1946 wird er Lagerleiter des Wohnlagers 20, was er bis zu seinem Tod bleibt. Dienstgeber waren zuerst die „ehemaligen Reichswerke“ und ab 1945 die VÖEST (so ein abschließendes Dienstzeugnis vom 9. Jänner 1956).

Vor diesem Hintergrund beauftragte ich den Linzer Historiker Hermann Rafetseder zu erforschen, in welchem Umfeld Leopold Jungwirth von 1938 bis 1945 tätig war, in welcher Beziehung er zur NSDAP stand und ob ihm Verbrechen in dieser Zeit vorzuwerfen seien. Die Ergebnisse finden sich hier in einer umfassenden Dokumentation.

Zusammengefasst stellt sich das so dar: Leopold war in drei verschiedenen Lagern tätig und wohnte in zwei unterschiedlichen, davon verschiedenen, Lagern. In diesen Lagern waren ZwangsarbeiterInnen untergebracht, die derart unter Zwangsarbeit standen, dass sie von der Republik Österreich (Versöhnungsfond) entschädigt wurden. In den Lagern, in denen er arbeitete, waren überwiegend Angehörige „privilegierter Nationen“ (also „weniger schlecht Behandelte“, wie z. B. die „OstarbeiterInnen“) interniert. In dem einen Lager, in dem er die meiste Zeit wohnte, befanden sich auch viele „OstarbeiterInnen“. Es kann davon ausgegangen werden, dass diese auch für ihn tätig wurden – zumindest in der Reinigung der Unterkunft.

Nach dem Kriegsende wurde Leopold Jungwirth im Lager 20 (das dann ein Wohnlager wurde) Lagerleiter. Dies und die Tatsache dass er laut posthumem Zeugnis vom Jänner 1956 offenbar ohne Unterbrechung über das Kriegsende hinaus seine Tätigkeit in denselben Lagern fortführen durfte, kann zumindest als Indiz dafür gewertet werden, dass ihm keine gröberen Verstöße gegen die Menschlichkeit zur Last gelegt wurden. Allerdings waren die ZwangsarbeiterInnen meist bald außer Landes gebracht worden, was allfällige Zeugenschaft in größerem Ausmaß unterband. Erwähnenswert sind hier die „Werkschutzmänner“, einer Art Lagerpolizei, die in vielen Lagern durch besonders hartes Durchgreifen gegen ZwangsarbeiterInnen berüchtigt war. Diese erledigten in Großbetrieben die „Drecksarbeit“ zur Disziplinierung der ZwangsarbeiterInnen. Ein „Hilfslagerführer“ wie Leopold Jungwirth hätte selbst bei bösen Absichten keinerlei Grund gehabt, sich die Hände selbst schmutzig zu machen. Eine Mitgliedschaft in der NSDAP ist nicht dokumentiert. Das mag auch der Grund gewesen sein, warum mein Großvater „nur“ Hilfslagerführer wurde. Offen bleibt in diesem Zusammenhang aber die Frage, warum er in seinem späteren Patenzettel als „Lagerführer der VÖEST“ titulieret wird, obwohl dies damals offiziell untersagt war – eine umgangssprachliche Schlampigkeit oder Ausdruck eine Reminiszenz an die NS-Zeit?

An Wohnadressen werden im Personalakt für Leopold Jungwirth drei Lager genannt: In einem Schreiben vom Oktober 1939 Lager 56, in einem Dokument mit Stand August 1941 „Linz, Lager 57“ bzw. Wohnlager 57 an der Salzburger Reichsstraße. Schließlich dann Wohnlager, Lager bzw. Siedlung 20 am Vöest-Gelände, wo er mit seiner Familie wohnte und an 25. November 1955 am „coronarsklerose, angina pectoris“ verstarb.

Sein letztes Bruttogehalt im Jahr 1955 betrug 2000 Schillinge. Dies entspricht inflations- und kaufkraftkorrigiert im Jahr 2022: 1120,- €.

Trotz dieses spärlichen Einkommens kauften Ida und Leopold Jungwirth in Langholzfeld bei Linz ein Grundstück an der Adresse Nr. 430 (heute: Dr. Karl Rennerstraße 7, 4061 Pasching). Sie begannen, mit einer Siedlungsgenossenschaft ein sogenanntes „Mansardenhaus“ mit zwei Wohnungen zu bauen. Als der Rohbau stand, starb Leopold. Das Haus stellte sein Sohn Hermann mit seiner Mutter Ida fertig – mein Elternhaus. Auch von dort handelt ein Hörspiel meines Bruders Andreas: „Langholzfeld“.

© Deutschlandradio /  Jungwirth

 

Kommentare für “Mein Großvater Leopold – der erste Jungwirth, der aus dem Mühlviertel fortzog, aber nicht sehr weit

  • Dir. Erwin Bindreiter :

    Lieber Herr Jungwirth!
    Toll was ich da lesen kann!
    Ich betreibe schon längere Zeit Familienchronik/Ahnenforschung. Da meine Frau eine geborene Jungwirth ist (Maria Jungwirth), habe ich mithilfe der Geburts-/Heirats-/Sterbebücher die Jungwirths bis 1600 (Matthias (Mathias Jungwirth *1600 ca. +1686) zurückverfolgen können und sämtliche Ahnen gespeichert. Ich jabe jedoch noch keine Zeit zum Veröffentlichen gefunden. Bei den Geburten könnte ich noch einige Ergänzungen anbieten.
    Der 4-fache Urgroßvater meiner Frau ist Nicolaus Jungwirth (geb. 1729), Gregor Jungwirth (geb. 1734) („Frater Anton“) ist somit der 4fache Urgroßonkel meiner Frau.
    Eine Frage habe ich noch: Woher haben Sie all die Informationen zu den Berufen und Wohnverhätnissen? Gibt es dazu Quellenangeben?
    Ich würde mich freuen über einen Kontakt zu Ihnen!
    Liebe Grüße
    Erwin Bundreiter

  • Werter Herr Jungwirth
    Begeistert lese ich die erfüllen de Chronik, da meine Gattin aus Kirchberg stammt, aus dem Haus Gahleitner, Steinerberg 13, und da immerhin auch 15 Kinder das Haus verließen, danke für die Ausführungen Wirt Ernst ist bekannt und Cousin Gerald auch
    Liebe Grüße aus Leonding

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